Die Waldhexe

Eine Traumgeschichte von Paul Bliß
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 19.03.1899


Eine ganz seltsame Geschichte habe ich kürzlich im Traume erlebt.

Vor meinem Kamin steht ein großer Schirm, auf dem selten schöne Blumen und Figuren gemalt und gestickt sind, ganz eigenartige Gebilde, phantastisch, exotisch wie aus dem Märchenland, sonderbar stilisirt, und in Farben-Abtönungen, die man nicht wieder vergessen kann, wenn man sie einmal genau angesehen hat. Ich habe dieses Schmuckstück meines Zimmers besonders lieb gewonnen, denn stets, sobald die Dämmerung langsam herniedersinkt, rücke ich meinen Sessel vor den Kamin, lasse mich durch das milde, dämmernde Licht in einsame Träume einlullen, blicke suchend und sehnend auf das märchenhafte Bild meines Kaminschirmes, und suche zu erkennen, was der geniale Künstler mit diesem seltsamen Bilde hat sagen wollen.

Aber nie habe ich es ganz ergründen können. Eine süße Schwermuth liegt darin, und eine stille, gottergebene Duldung, etwas Erhabenes, Heiliges, das allemal mich mächtig ergreift und mir die Seele durchrüttelt — ganz aber es ergründen habe ich nie gekonnt.

Und nun ist es über mich gekommen wie eine Erleuchtung, ganz plötzlich.

— — —

Es war einmal im sonnigen Süden eine mächtige Fürstin, sie war milde und gut, und Jedermann liebte sie um ihrer selbst willen, ihr Reichthum war unermeßlich, sie selbst aber machte nur wenig Gebrauch davon, denn sie war anspruchslos und bescheiden und unendlich war ihr Sinn für Wohlthätigkeit: wo immer sie auch einen Armen und Leidenden sah, da brachte sie ihm Hülfe und Linderung mit milden Händen und mit lieben, herzigen Worten. Darum liebte und betete alle Welt sie an, und sobald sie sich irgendwo zeigte, brach man in Jubel und Huldigung aus, sang ihr Lob und Preis und streute duftende Blumen über ihren Weg hin.

Diese Fürstin hatte eine Tochter; auch sie wurde gleich ihrer hohen Mutter angebetet und geliebt, denn sie hatte alle die edlen Tugenden der Mutter geerbt. Dies edle Kind aber war so blaß wie Schnee und so zart wie ein Hauch, ihre Sprache war von so lieblicher Feinheit wie Harfenklang, und ihre Blicke mild wie des Mondes Silberglanz.

Mutter und Tochter waren in reiner hongebungsvoller Liebe einander zugethan, und wenn sie beide Arm in Arm nebeneinander gingen, allerorten Hülfe und Beistand bringend, dann beteten die alten Leute aus dem Volk: „Der liebe Herrgott erhalte uns diese beiden Engel, die er uns zum Wohle auf die Welt geschickt hat!”

Da begab es sich eines Tages, daß die junge Adah, als sie mit Marinka, der alten Dienerin, spazieren ging, von einem fürchterlichen Unwetter überrascht wurde. Sie befanden sich mitten im Walde und wußten nicht, wo sie Schutz suchen sollten.

Plötzlich aber stand ein Mädchen vor ihnen, ein frisches gesundes Waldkind, stark und kraftvoll, mit Augen, so klug wie ein Reh und doch so gut wie der treueste Hund, und dies Mädchen sprach: „Kommt mit mir, Herrin, ganz nahebei liegt meine Hütte, dort seid Ihr geschützt.”

Ubd Adah fragte erstaunt: „Wer bist Du denn?”

Da antwortete das Mädchen: „Ich heiße Wilda, die Leute aber nennen mich die Waldhexe.” Damit ging sie voran.

Adah lächelte nur dazu, dann nahm sie den Arm ihrer Dienerin und folgte dem Mädchen.

Es war eine ganz einfache Holzhütte, in der nur die allernothwendigsten Gebrauchsgegenstände sich befanden, aber Alles war reinlich und geordnet, so daß man sich bald heimisch fühlen konnte.

Dort warteten sie das Unwetter ab. Und während draußen der Sturm tobte und prasselnd der Regen niederfiel, saßen die drei am traulichen Herdfeuer zusammen und sprachen miteinander.

„Wer ich bin,” erzählte Wilda, „weiß ich nicht. Ich stehe ganz allein in der Welt, und ich brauche auch Niemand, denn ich nähre mich von den Früchten dieses großen Waldes.”

Erstaunt sah Adah auf das frische Kind. „Was für eine gesunde Farbe Du hast, und wie kräftig Du bist,” sagte sie voll Bewunderung.

Aber Wilda erröthete und stammelte: „Ach, Herrin, wenn man den ganzen Tag über im Walde liegt, da kann man keine so zarte Farbe haben.”

„Sie weiß gar nicht, wie gut sie es hat,” sagte Adah heiter zu ihrer Dienerin.

Als das Unwetter vorbei war, nahm die junge Fürstin Abschied. „Auf Wiedersehen, du kleine Waldhexe!” sagte sie lachend. Und Wilda küßte der Herrin die Hand.

Von dem Tage an sahen sie sich öfter. Jedesmal wenn Adah in den Wald ging, traf sie auch Wilda; dann scherzte die Fürstentochter mit dem einfachen Waldkind, und ließ sich von ihm die schaurigen Märchen von dem Zauberer des Waldes berichten. So wurden sie miteinander bekannt, und schon nach einer Woche betete Wilda ihre hohe Freundin an und war glückselig, wenn sie ihr einen Dienst erweisen durfte oder ihr die zarten bleichen Hände küssen konnte.

Um diese Zeit geschah es, daß ein junger Prinz aus dem Nachbarlande die Residenz der Fürstin besuchte.

Prinz Arno hatte von der blassen Schönheit Adah's gehört, und nun wollte er sehen, wieviel Wahrheit an den Märchen war, die man sich von ihrem Liebreiz erzählte.

Bald war er entbrannt von heißer, verzehrender Liebe für die schöne Fürstentochter, so beschloß er, um die Geliebte zu werben, falls auch sie etwas für ihn empfinde.

Und Adah, deren Herz noch nicht gesprochen hatte, empfand, da sie den schmucken jungen Mann sah, ein heimliches Schauern, wie ein Gefühl von ungekannter Glückseligkeit und als sie allein war, da gestand sie es sich, daß er ihr gefalle.

Erröthend und zitternd hörte sie ihn an, und als er seine Werbung vorgebracht hatte, sank sie ihm in die Arme und weinte Freudenthränen an seiner Brust.

Wonnevolle Tage kamen. Sie Liebenden schwelgten in endloser Glückseligkeit, und das ganze Volk nahm Theil an dem hohen Glück seiner geliebten jungen Herrin.

Eines Tages sah auch Wilda den jungen Prinzen Arno, als er einsam und nachdenkend im Walde lustwandelte — mit großen, verwunderten Augen sah sie ihn an — wie ein Gott erschien er ihr — lautlos, athemlos folgte sie seiner Spur — sie konnte ihn nicht lange genug anblicken, diesen Mann, den ihre hohe Freundin liebte — und je länger sie ihn ansah, desto schöner und herrlicher erschien er ihr.

Plötzlich drehte der Prinz sich um und erblickte das verträumt dastehende Mädchen. Erstaunt sah er sie an. Ihre kraftvoll gesunde Gestalt gefiel ihm. Und er fragte: „Wer bist Du, schönes Kind?”

Aber Wilda stand da wie versteinert, starr und stumm sah sie ihn an.

Da trat der Prinz auf sie zu. „Du gefällst mir, kleine Hexe!” und er legte seinen Arm um sie und küßte sie auf den Mund, wild und begehrlich.

Und da erwachte Wilda schauernd aus ihrem Traum, und purpurübergossen, beschämt, verletzt und doch voll von heimlicher Seligkeit floh sie, mit eilenden Schritten, behend und flink wie eine Gemse, weit hinein in den Wald, tief hinein in die Berge, wo keines Menschen Fuß ihr folgen konnte.

Wie gebrochen sank sie dort oben zusammen. Und sie wühlte den Kopf in das hohe Gras hinein, um abzuwaschen die Schande, die er ihr soeben angethan hatte, und sie weinte heiße, bittere Thränen, denn sie fühlte, daß sie ihn liebte, den Mann, den sie doch nicht lieben durfte — — und sie riß sich die Kleider auf und krallte sich die Nägel in das zarte, rosige Fleisch und weinte und schluchzte lange und bitterlich, und durch ihre Seele ging es wie ein tiefer Riß, der ihr das kommende Leben als einen endlosen, steinigen Dornenpfad zeigte — lange, lange schluchzte sie so . . . .

Von dem Tage an ließ sie sich nrgends mehr blicken. Einsam und nachdenkend vertrauerte sie die Tage hoch oben im Gebirge, und nur in der Nacht schlich sie sich hinunter in die Nähe der Menschen. Dann umkreiste sie oft stundenlang den Palast der Fürstin und blickte mit thränenvollen Augen hinauf zu den Fenstern ihrer hohen Freundin, bis der Morgen anbrach oder die Wächter sie fortjagten.

Sa erkrankte eines Tages die junge Adah.

Ein Wehklagen ging durch das Volk. Die Fürstin und Prinz Arno standen am Lager der jungen Braut, die in ihrer zarten Blässe wie ein lebendig gewordener Engel dalag. Niemand wußte Hülfe zu bringen.

Endlich erfuhr es auch Wilda.

Und da raffte sie ihre letzte Kraft zusammen und lief zu dem gefürchteten alten Zauberer, der mitten im undurchdringlichen Waldesdickicht hauste, von ihm den seltenen Zaubertrank zu erflehen, der neues Leben und junge Kraft verlieh.

„Wohlan,” sprach der Zauberer, „Du sollst haben, was Du begehrst, aber wisse: Dir selbst wird der Wundertrank nichts nützen, nur wenn Du ihn fortschenkst, wird er die ersehnte Heilung bringen, dafür aber wirst Du, sobald der Trank seine Wirkung gethan hat, Dein Leben lassen müssen.”

Zitternd und erbleichend stand Wilda da und starrte entsetzt den Zauberer an. Endlich aber sagte sie todesmuthig: „Ich will! gieb mir den Wundertrank.”

Und so empfing sie das Fläschchen mit der heilbringenden Flüssigkeit. Dann rannte sie Tag und Nacht, und ruhte nicht eher, bis sie der angebeteten jungen Herrin das Lebenselixir gebracht hatte.

Zur selbigen Stunde wurde die schöne Adah gesund, stand auf vom Lager und war blühender, schöner und lieblicher denn je.

Ein Jubelsturm tobte durch das Land, als Adah am Arm des schmucken Prinzen Arno dem überglücklichen Volke sich zeigte.

Und Alles schrie nach Wilda. Man durchsuchte den Wald und die Berge und alle Höhen und Schluchten — man fand sie nicht mehr wieder.

Eine Tag später führte der Prinz die schöne Adah als seine Gemahlin heim. Und als die Hochzeitsglocken jubelnd durch das Land schallten, da waren sie für die Wilda die Todesglocken, denn hoch oben im Gebirge, gebettet auf duftenden Rosen, lag sie und hauchte ihre Seele aus.

— — —

So das Bild aus meinem Traum — im Leben ereignet sich so etwas wohl nicht mehr.

— — —